Gröhler, Harald
lebt in Berlin und Köln. Er machte früher quer durch Europa und nach Kleinasien Trampfahrten; die waren wüst und oft regelrecht gefährlich. Danach hatte er selber immer wieder ein Auto; das letzte Auto hat er jetzt aus guten Gründen verkauft. Erwähnenswert vielleicht auch: sein Schmuggel von Manuskripten aus der DDR in den Westen (zweimal). Gröhler war Gastprofessor an 2 US-Staatsuniversitäten (das erste Mal hatte ihn diese Aufforderung selber überrascht): für Literatur/ Literatursoziologie. Er gründete die Gruppe Intermedia R, die zwei Jahre auftrat, bis sie wieder auseinander lief (zu ihr gehörten 2 Autoren, ein Komponist, 2 interpretierende Musiker, ein Kunstmaler, ein Grafiker, ein Cineast, eine Lichtbildnerin. Gemeinsame öffentliche Aktionen z.B. in Wuppertal und Köln. Zwei der Mitglieder führen heute Professorentitel). Dreimal erhielt er auch einen 1. Preis – zweimal für Lyrik, einmal für ein Theaterstück –. Er ist Träger des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutsch-land (... den Orden hat er leider gerade in der Münchener Straßenbahn verbummelt, auf einer Lesereise). Gröhler ist Mitglied im P.E.N. und steht im Who’s Who drin, und zwar in solchen Ausgaben, in die man sich nicht hineinkaufen kann. Als freiberuflicher Eventservicemanager organisierte er (und moderierte er dann auch persönlich) über 950 Schriftstellerveranstaltungen, auch z.B. eine Antigolfkriegsveranstaltung mit Exilautoren des Iraks (u.a. Khalid al-Maaly) und des Irans, eine Podiumsdiskussion über „Literaturförderung“ u.a. mit dem Kultusminister von NRW u. dem VS-Bundesvorsitzenden, sowie Veranstaltungen für Amnesty International. Gröhler ist übersetzt worden in bisher 8 Sprachen; zum Beispiel ins Türkische, – folglich nicht bloß ins Englische. Zwei Bücher von ihm haben je etwa 5o Besprechungen bekommen; was in Deutschland ziemlich heftig ist. (…und am liebsten isst Gröhler übrigens nicht Steak und Sushi, sondern Wildkirschendessert. Das nur nebenbei gesagt.)
Mehr: wikipedia.org/wiki/Harald_Gröhler
Adresse: Göhrener Str. 12, 10437 Berlin. fon +49 30 44041203; hgroehler@gmx.de

Veröffentlichungen:
I. Bücher:
In Eile, im Mantel. Neue Stories. POP Verlag, Ludwigsburg, 1. Aufl. 2018. 223 Seiten, ISBN 978-3-86356-219-9;
... unterwegs. Anthologie und Dokumentation zu den Plesse-Lesungen September 2017. Ti-telfoto Steffen Marciniak. Verlag Frauenmuseum, Reihe Literatur Atelier, Bonn 2017, ISBN 978-3-946430-13-1;
Niemals sterben ∙ ewig leben. Memorial zu Kölner Mitgliedern des Verbands Deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (zusammen mit Anne Jüssen). Literatur∙Atelier Frauen-museum, Bonn 2016. ISBN 978-3-940-482-98-3;
Inside Intelligence. Der BND und das Netz der großen westlichen Geheimdienste. Foto Brigitte Friedrich. Verlag Neuer Weg, Essen 2015. ISBN 978-3-88021-409-5;
Eine Selbstmörderin. Erzählungen – Samobójczyni. Opowiadania, Hg. und Vorwort Dr. Kalina Mróz-Jablecka, Foto Steffen Marciniak, deutsch und polnisch, Neisse Verlag, Dresden 2015, ISBN 978-3-86276-155-5 und Oficyna Wydawnicza ATUT, Wrocław 2015, ISBN 978-83-7977-097-7;
Der Sprung durch den Teich. Die Metaphysik der Gedichte, Cover-Zeichnung Prof. Peter Angermann, Foto Brigitte Friedrich, Pop Verlag, Ludwigsburg 2015, ISBN 978-3-86356-105-5;
Mitlesebuch 122. Gedichte, mit 5 Grafiken von Prof. Peter Angermann. Aphaia Verlag, 2. Aufl. Berlin 2015. Artikel-Nr. 5122-2;
Schlafgestört . Wytrącony ze Snu. Gedichte. Herausgegeben und ins Polnische übertragen von Małgorzata Płoszewska. Zweisprachig. Poetry Poezja. Verlag Oficyna Wydawnicza Ars pro Memoria, Starachowice 2013. ISBN 978-83-62359-51;
II. Herausgeberschaft von: Josef Hruby „Die Netze. Lyrik“, übersetzt aus dem Tschechischen von
I. Hesova, Corvinus Presse 1999, ISBN 3-910172-69-5;
Mitherausgabe u. Redaktion der literarischen Zeitschrift „Gazette“, Köln 1991; sowie weitere Herausgeberschaften.
III. Mitarbeit bei bibliophilen Mail-Art-Unternehmungen, seit 1992 ff, z.B. in Ye No Four, School
Edition 1996 (Hrg. Theo Breuer).
Prosa und Lyrik veröffentlicht in circa acht Dutzend Anthologien, z.B. in:
Der deutsche Lyrikkalender 2011 und 2009, Hrsg. Shafiq Naz, alhambra publishing, Bertem, Belgien;
Versnetze, Hrg. Axel Kutsch, Verlag Ralf Liebe 2007;
Beckenbauer zertritt kleine Tiere, Antho. des 10. MDR-Literaturwettbewerbs (1821 Mitbewerber), Verlag Faber & Faber, 2oo6;
Großstadtlyrik der Gegenwart, Hrg. Axel Kutsch, Landpresse 2oo2;
Die Außenseite des Elementes, Hrg. Jan Wagner, Berlin - New York 2oo1;
D’un pays et de l’autre, Ed. Jacques Darras, Verlag hui Le Cri, Brüssel 1998;
Von einem Land und vom andern. Gedichte zur deutschen Wende, Hrg. Karl Otto Conrady, Suhrkamp 1993;
Eiszeit – HeissZeit. Literatur der 80er Jahre, Hrg. Anton G. Leitner, Goldmann Verlag 1988;
Jahrbuch der Lyrik, Hrg. Christoph Buchwald, Harald Hartung, Claassen;
Jahrbuch für Lyrik, Hrg. Prof. Dr. K. O. Conrady, und danach Günter Kunert, Athenäum;
Ausgeträumt, Hrg. Dr. H.-U. Müller-Schwefe, Suhrkamp;
Die Phantasie an die Macht, Hrg. Nicolas Born, Rowohlt.
IV. Literarische Texte (Lyrik, Prosa) veröffentlicht in Zeitungen (z.B. Süddeutscher Zeitung, F.A.Z.), Zeitschriften (z.B. triangel 2-2oo6, fünfmal in den Akzenten, in den horen, der tschech.-dt. Zeitschrift:Kolon), gesendet im Funk (z.B. WDR, SFB, RIAS, Saarl., Bayer. Rundf., Radio Bremen) und von TV-Sendern (z.B. 1999 mehrfach).
V. Essays, philosophische Texte, literaturkritische Texte veröffentlicht u.a. in Merkur, Neue
deutsche Hefte, ZEIT, F.A.Z., Frankfurter Rundschau, den Akzenten, in DIMENSION (Texas, USA) vielfach, den horen, in Znak (polnischer kath. Kulturzeitschrift), gesendet von fast allen öff.-rechtl. Rundfunkanstalten.
VI. Einzelne Texte sind übersetzt worden ins Englische, Polnische, Türkische, Serbokroatische, Slowakische, Arabische, Französische, Russische. Demnächst ins Italienische.
VII. Gedichttext vertont worden 1999, Partitur von Helmut Schmale.
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(Mit diesem Text - hier eine gekürzte Fassung - wurde Gröhler beim P.E.N.-Zentrum vorgestellt und eingeführt:)
Charakteristik des Autors
Der Autor Harald Gröhler ist seit seinem Studium (Philosophie und Psychologie) hauptberuflich freier Schriftsteller. Er hat als Belletristikautor 11 Bücher bisher veröffentlicht (keines in Druckkostenzuschussverlagen). Sein Roman „Rot“ und seine „Geschichten mit Kindern und ohne“ bekamen jeweils 5o Besprechungen – von FAZ bis NZZ –, auch sein jüngstes Buch, „Wer war Klaus Störtebeker? Eine Spurensuche“, 2. Auflage – eine enorm aufwendig recherchierte, mehrjährige Arbeit – erhielt wieder über 20 Rezensionen. Literarisch ging Gröhler von der Konkreten Poesie und damit von der Lyrik aus. (Schon als Schüler besuchte er Eugen Gomringer.) Inzwischen ist für Gröhler kennzeichnend ein vielschichtiger, kultivierter Stil. Um drei Zitatausschnitte zu verwenden: den ersten von Walter Kempowski, „ich finde Ihre Texte sehr ungewöhnlich. Die Kombination von Theoretischem und Sinnlichem scheint mir neu und geglückt.“ Ein zweites Zitat, von Hans-Jürgen Heise: „Dieser Dichter geht subversiv vor. [Bei Gröhler] ... erscheint der Mensch nicht als statisch messbare Größe, sondern als ein komisch-vieldeutiges Alltagstier, das staunend, ratlos und erschrocken seine Umwelt durchtappt.“ Und ein Zitat von Heinz Piontek: „... ließ alles stehen und liegen und las ... in einem Zug. Nach dem burschikos zarten, ironischen Anfang wird die Sache nun ernst, ja dramatisch, sie bekommt ihr volles Gewicht. Gröhlers Sprache hat die Mundfrische spontanen Erzählens und das Atmosphärische impressionistischer Malerei. ... In der Anja Wild hat er der zeitgenössischen Literatur eine großartige, unvergessliche Figur geschenkt. Man muss schon bis zu Holden (Salinger ‚Catcher in the Rye‘) zurückgehen, um etwas Ähnliches zu finden.“ Die Sprache ist bei Gröhler die entscheidende Qualität. Gröhler hat eine eigenwillige, faszinierend lebendige, pointierte Diktion – gelegentlich skizzenhaft leicht, dann wieder hypotaxenreich –, hat auch versteckten Witz; grammatisch, psychologisch, dramaturgisch, ironisch, witzig verbindet er oft fact und fiction. Obwohl sprachsensibler Prosaautor und Lyriker, engagiert sich Gröhler aber auch: So als Delegierter (mehrfach wieder gewählt; zeitweise der Koordinator) in der Berliner Betroffenenvertretung eines großen Sanierungsgebiets. Er tut das ehrenamtlich. Ebenso hat er sich jahrzehntlang für die Verbreitung von anspruchsvoller Literatur eingesetzt; viele unserer P.E:.N.-Mitglieder werden ihn von daher persönlich kennen. Vor allem für dieses Engagement – 95o Lesungen organisiert, bekannt gemacht und moderiert, immer mit Diskussion geleitet zu haben – ist ihm inzwischen auch der Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland zuerkannt worden. Gröhler war bisher dabei nie irgendwo angestellt gewesen – außer während zweier Gastprofessuren, in Austin, Texas, und in Albuquerque, Neumexico. Er ist nirgendwo fest angestellt, aber er ist auch kein Eigenbrötler, ist aktives Mitglied bei 7 literari-schen Vereinigungen, den Autorenkreis Historischer Roman hat er mitgegründet, er ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Philosophie. Gröhler hat auch schon diverse Anerkennung gefunden, ist in 12 verschiedenen Who‘s Who‘s und Nachschlagewerken aufgeführt, bekam – unter anderem – das Förderstipendium Literatur von Köln, den 1. Preis Sparte Drama beim vorletzten NRW-Autorentreffen und einen Preis im Deutschlandpolitischen Literaturwettbewerb des Landes Niedersachsen, er hatte das Wohnstipendium Worpswede, das Wohnstipendium Schloss Wiepersdorf und das von Minden, zuletzt das Wohnstipendium des UNESCO-gestützten Baltic Centers auf Gotland, Schweden. Wir finden es sehr angebracht, diesen dynamischen und dabei zugleich sprachlich kultivierten und kreativen Mann als Mitglied bei uns im P.E.N. zu haben.
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Ein persönliches Statement zu seinen Gedichten:
„Ich habe das Gedicht – die Gattung Gedicht – als etwas kennen gelernt, das allen Systemen, die es einfangen möchten, Widerstand leistet. Das ist auch für mich bei meinen eigenen Gedichten so. Allen Systemen Widerstand zu bieten’: … und manchmal kann das geradezu die Funktion der Gedichte sein. Allen Systemen Widerstand zu bieten, das impliziert: Gedichte-Schreiben ist für mich Herstellung von Freiheit. Das Gedicht (und das heißt auch das Lesen / Hören eines Ge-dichts) bietet eine Rolle der Freiheit an. Daraus wiederum ergibt sich für mich (oft, nicht immer): Ein Effekt, eine Wirkung des Gedichteschreibens und des Gedichts ist, einen Kontakt herzustellen, der nicht historisch ist und der nicht gesellschaftlich ist. (Die Kommunisten ste-hen hier kopf) Die Bauart meiner Gedichte leitet sich aus dem Wissen ab, dass eine wie auch immer geartete „einfache Wahrheit“ heute nicht zu haben ist. Die Gedichttexte „mäandrieren“ oft. Sie steuern dann inhaltlich nicht schnurstracks auf ein Ziel oder auf ein Ende zu, sondern sie nehmen vieles mit auf. Solche Gedichte sind nicht mehr monothematisch, sondern polythematisch, sie sind „überdeterminiert“. Themen, die vom Autor aufgegriffen werden, können alsbald wieder verschwinden. Aussagen können sich überlagern. Absichtlich schließe ich im Gedicht manchmal kurz. Dies, wenn ich Inhalte aufeinander beziehe, die normalerweise nicht (oder nur mit mancherlei Zwischenschritten) als zu-sammengehörig erlebt werden –. Und manchmal kann ich erst so das Allzu-Selbstverständliche aus seiner Region des Schweigens, des Unsichtbar-Gewordenen und der Nichtbeachtung hervorholen. Ich sehe solche Vorgehensweisen immer auch als eine Chance an, die sich speziell dem Poeten bietet – und die er nutzen sollte –; dem Poeten deutlich im Unterschied zum Wis-senschaftler. Oder im Unterschied zum Journalisten. Worüber will ich schreiben? Über die Unwägbarkeiten zwischen Tat und Gedanken; zwischen dem Gedanken und aller Materialität. Über die Unvereinbarkeiten zwischen Wachzuständen und dem Traum; und weiter: über den Zwischenraum zwischen der Kindheit und der Jetztzeit. Über das Niemandsland zwischen Gesundheit und Tod. Manchmal auch noch über die Imponderabilien zwischen kollektiv gewordener Mythe und einer jeweils individuellen Realität.
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Eine Textprobe von Harald Gröhler:
Der Stummel der Waldorf Astoria
Nelly und Ottel wuchsen in Schweidnitz auf. Eine Stadt ist das in Niederschlesien mit einer evangeli-schen Friedenskirche, und auf der Empore dieser Kirche waren an den Banklehnen lauter Namens-schildchen festgeschraubt. An den Schildchen zerriss und zerschlitzte sich Nelly leider jedesmal Fäd-chen ihrer Seidenbluse. Nelly war sportlich. Für Mädchen um 1900 noch etwas Ungewöhnliches; aber dahinter steckte ein ehrgeiziger Onkel. Der Onkel stachelte Nelly schon in ihrem Vorschulalter zu größeren Taten und zu Leistung an. „Los, lauf um die Wette mit mir!“ sagte er. Sie liefen. „Und morgen noch mal das Ganze: du mit dei-ner Schwester. Das ist schon schwerer als mit mir.“ Wilhelm lebte wie Nelly in Schweidnitz und kam alle paar Augenblicke zu Nellys Familie herüber. Nelly und ihre Schwestern redeten ihn mit „Onkel“ an; Onkel war eine Abkürzung von Onkel Wilhelm. Die anderen Leute in Schweidnitz durften diesen Herrn nicht mit „Onkel“, sondern mussten Wilhelm mit „Herr Steinbrück?“ anreden; möglichst immer in fragendem Ton. Wilhelm Steinbrück war eine selbstherrliche, maskuline Persönlichkeit, ein nichtadliger und nicht ganz unvermögender Gutsbesitzer. In Deutschland stand seinerzeit obenan ein Kaiser. Und so mancher Untertan fand ungeniert damals Jungen mehr wert als Mädchen. Nellys Onkel Wilhelm Steinbrück hätte eigentlich lieber drei Neffen als drei Nichten gehabt, und deshalb spornte er wenigstens die eine, die jüngste Nichte, Nelly, wie einen Jungen an; schon zu der Zeit, als die noch ein winziges Ding war. „... Der Nussbaum?“ sagte Wilhelm zu Nelly. „Na klar. Du kannst das schon!“ „Ich ... . Onkel, ich ...“ „Den Nussbaum? Das ist doch für dich ein Klacks. Aber sicher kommst du auf den ‘nauf.“ „Onkel Wilhelm, ich grade? ... Schick doch einen Knecht rauf in den Baum wegen der Nuss. Der holt dir doch die Nuss.“ „Na aber!“ ... Der Gratsch unterlief ihm den ganzen Feldzugsplan; der sprengte die Erziehung. „Ich kann doch nich‘ klettern.“ „Bestimmt kletterst du bald wie ‘ne Katze.“ Das war so die Methode von Wilhelm Steinbrück, er machte seiner jüngsten Nichte immer Mut. Er stärkte sie, wo er nur konnte. Zunächst schaffte er zwar bloß, dass Nelly Oberrüben roh aß. Kohlrabi, Oberrüben. Aber er hielt das bereits für vielversprechend. Man musste notfalls auch ohne Kochen klarkommen, in der freien Natur, draußen – Steinbrück vergaß, dass höchstens er sich tagelang in der freien Natur aufhielt; etwa wenn er sich verlief; in den Gebirgswäldern. Wilhelm war auch ein fabelhafter Niederwildjäger. In Nachbar-revieren ging die Rede, er sei mehr ein Wilddieb. Wieder einige Wochen später setzte er sich zu Nelly ans Katzentischel. „Nelly. Schmeißen tust du ja auch schon wie ‘n Junge.“ Nelly sagte oder piepste hinter dem Tischchen: „Ja ja.“ „Siehst du.“ „Weil du’s mir ja gezeigt hast.“ In der Weise ziemlich scharfsinnig war die Kleine. Nach noch mehr Wochen paffte Wilhelm eine Waldorf-Astoria-Zigarette und setzte er sich auf eine Rütsche vor Nelly. Es war die letzte Waldorf Astoria. Auf dem Fußbänkchen, der Rütsche sitzend sagte er: „Das Kascheln, war doch auch famos, heute nachmittag? Auf dem Eis, das Schliddern?“ „Aber zweimal hingefallen bin ich!“ Es war das Eis der lückenlos zugefrorenen Weistritz. „Nur zwei Mal! Wo du dauernd gekaschelt bist, den ganzen Nachmittag. Und vor allem: nicht ge-weint.“ Er zerrte und wurstelte sein Portemonnaie heraus, womit er sich die seitliche Hosennaht an der Hosentasche einriss; Steinbrück erhob sich nun doch lieber von der niedrigen Rütsche, und Nelly bekam ein goldenes Zehnmarkstück geschenkt. Nellys Schwester Gittel war ein Jahr älter als Nelly, Gittel wollte nun auch so ein Goldstück haben, aber Onkel war kein Dukatenesel und hatte nur noch einen Schein. Zwanzigmarkschein. Den sah Gittel als „schmuddliges Stückel Papier“ an, und sie begann empört den zu zerfetzen. Nelly und der Onkel Wilhelm fielen ihr in den Arm, ein Schein war gerettet. Gittel, um die so viel Aufhebens gemacht wurde und um die sich so viele bemühten, reagierte nun nicht mehr zornig; nur murrwezlig noch. Steinbrück drückte im Aschenbecher den Stummel der Waldorf Astoria aus; während er die kleine Gittel bremste, behielt er das edle Zigarettenende noch weiter im Mundwinkel. ... Die Waldorf war seine letzte Zigarette, nicht weil er die anderen schon aufgeraucht hätte, sondern weil alle übrigen ihm Nellys Mutter bei ihrer nachmittäglichen Stippvisite entwendet hatte. Nellys Mutter lebte ohne Mann. Deren Mann war schon gestorben, und Nelly, Gittel und Ottel wuchsen vaterlos auf.
(Originaltext)